Zu perfektionistisch: Wenn aus sollen müssen wird

Ob im Job, in der Partnerschaft oder in der Erziehung: Immer wollen wir alles richtig machen! Doch oft scheitern wir an den eigenen Ansprüchen. Ich würde sogar noch weitergehen: Unser Scheitern ist vorprogrammiert, wenn wir unrealistische Erwartungen an uns haben und von uns selbst 200 % einfordern. In einem solchen Fall sind wir dann nicht einfach ein bisschen perfektionistisch, sondern viel zu perfektionistisch.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Leistung alles bedeutet und stark überbetont wird. Dies bleibt nicht ohne Folgen, denn diese hohe Leistungsanforderung führt zu einem zwanghaften Fehlverhalten: dem Perfektionismus.

Und dies, obwohl in vielen wissenschaftlichen Studien ein enger Zusammenhang von Perfektionismus mit psychischen Erkrankungen wie Burnout, Essstörungen, Depressionen oder auch Zwangsstörungen festgestellt wurde. Daher ist es an der Zeit, Wege aus unserem Perfektionismus zu suchen und auch zu finden.

Perfektionismus als “ehrenhafte Schwäche”

Die beiden kanadischen Psychologen Gordon L. Flett und Paul L. Hewitt, die wohl bekanntesten Perfektionismus-Forscher, bescheinigen dem Perfektionismus in der westlichen Welt sogar endemische Ausmaße… Dieses gehäufte Auftreten von Perfektionismus liegt unter anderem daran, dass es so sehr dem modernen Zeitgeist entspricht. Der Perfektionismus hat daher einen großen Einfluss auf unser Denken, Handeln und Fühlen.

Obwohl die meisten Menschen sich über die negativen Auswirkungen von einem zu perfektionistischen Verhalten einig sind, umgibt den Perfektionismus doch den Nimbus einer “ehrenhaften Schwäche”. Denn perfektionistische Menschen gelten als fleißig, ordentlich, zuverlässig und ernsthaft.

Auch wenn Betroffene darunter leiden, gewinnen sie auf der anderen Seite auch durch eine Steigerung des Selbstwertgefühls, wenn sie mit solchen attraktiven Eigenschaften in Verbindung gebracht werden. Dass ein übermäßiger Perfektionismus aber viele Menschen in ein Burnout katapultiert, wird viel zu selten wahrgenommen. Oder aber erst dann, wenn es viel zu spät ist.

An dieser Stelle ist meiner Meinung nach dringend ein Umdenken gefragt. Ich denke, dass es einen Weg gibt, weiterhin nach Selbstverbesserung zu streben, ohne zu perfektionistisch zu sein. Zumal das Perfekte sowieso unerreichbar ist.

Wenn man es genau betrachtet, handelt es sich beim Perfektionismus nicht um das Streben nach Vollkommenheit, sondern vielmehr um ein Vermeidungsverhalten. Es geht dabei meistens darum, sich unangreifbar gegen Kritik zu machen: Wenn ich perfekt bin und keine Fehler mache, kann ich auch nicht kritisiert werden!

Es handelt sich somit um eine unbewusste Sucht nach Sicherheit und nicht um die Vollkommenheit an sich. Die Sehnsucht nach Selbstoptimierung bringt uns voran. Ist sie aber mit Angst vermischt wie beim übermäßigen Perfektionismus, verlieren wir das richtige Maß für die Optimierung unseres Selbst.

Was bedeutet Perfektionismus genau?

Die beiden Psycholog*innen Joachim Stöber und Kathleen Otto definieren Perfektion folgendermaßen:

»Im Allgemeinen wird Perfektionismus als Persönlichkeitsstil gesehen, der sich durch Streben nach Fehlerlosigkeit und das Setzen von exzessiv hohen Zielen auszeichnet, kombiniert mit Tendenzen überkritischer Bewertung der eigenen Handlungen.«

Die Verhaltenstherapeutinnen Sabine Wilhelm und Gail S. Stakete von der Boston University beschreiben Perfektionismus hingegen aus psychodynamischer Sicht wie folgt: Sie definieren Perfektionismus als die Überzeugung, dass es für alles eine perfekte Lösung gibt und dass es möglich sowie erstrebenswert sei, eine Sache perfekt (d.h. fehlerfrei) zu machen, und dass selbst kleine Fehler sehr ernste Konsequenzen haben werden.

Das Leid von Perfektionist*innen

Übertriebener Perfektionismus führt durch den immensen inneren Druck direkt in die Unzufriedenheit, aber auch oft in Selbstverachtung und Verbitterung. Nie ist etwas gut genug! Alles könnte noch viel besser sein! Nicht selten nervt die Perfektionistin ihre Umgebung mit ihren Nörgeleien und ihrer Alles-oder-nichts-Mentalität. Entweder ist alles perfekt oder aber es hat keinen Wert!

Dieses überzogene Leistungsdenken ist häufig aus einer irrationalen Angst vor Ablehnung, der Angst, nicht gut genug zu sein und der Befürchtung, Ansprüchen von anderen nicht zu genügen, gespeist und erhält immer wieder neue Nahrung.  Übermäßiger Perfektionismus ist daher Ausdruck eines unsicheren Menschen.

Der Perfektionismus ist dabei nur Mittel zum Zweck und dient dazu, jegliche Kritik von außen möglichst zu verhindern und sich unantastbar zu machen. Die Angst vor Liebesentzug, wenn man etwas falsch macht, steigert sich zuweilen ins Unermessliche.

Aufgrund dieser permanenten Sisyphos-Situation katapultiert sich die Perfektionistin bzw. der Perfektionist früher oder später selbst in ein Burnout. Zudem stolpern Perfektionist*innen oft genug in Situationen, die sie eigentlich durch ihr zu perfektionistisches Verhalten verhindern und unbewusst ängstlich abwehren wollten.

Zu perfektionistisch zu sein, bedeutet, nichts erledigt zu bekommen.
Wenn Du auf das Perfekte wartest, wirst Du nichts erledigen können.

Je mehr sie sich in den Perfektionismus hineinsteigern, desto besserwisserischer und verbissener wirken sie auf andere, so dass es tatsächlich passieren kann, dass sich andere Menschen von ihnen zurückziehen. Denn oft genug erwarten Perfektionist*innen nicht nur von sich selbst unerreichbare Höchstleistungen, sondern auch von anderen.

Oft ist diese Angst mit der Angst gepaart, dass man keine Existenzberechtigung hat, wenn man nicht ständig Außergewöhnliches und Bewundernswertes leistet, und dies ganz fehlerfrei. Der dahinterstehende Glaubenssatz heißt: Liebe muss man sich durch Leistung und Fehlerfreiheit verdienen! Diese Angst führt häufig zu einer gewissen permanenten inneren Unruhe und verengt das Leben eines Perfektionisten auf unterschiedliche Weise.

Der Perfektionist will auf Nummer sicher gehen, ja keinen Fehler zu machen. Vor lauter Sicherheitsstreben geht allerdings das Leben an sich verloren. So befindet sich der Perfektionist in einem Teufelskreis: Denn Angst und Streben nach Sicherheit verstärken sich gegenseitig.

Perfektionist*innen vergleichen sich permanent mit anderen Menschen. Sie stürzen dann in eine schwere Krise, wenn der Vergleich zu ihren Ungunsten ausfällt. Dies ist fast immer der Fall, da sie sich mit Menschen vergleichen, die besser als sie abschneiden und nicht mit Menschen, die Aufgaben weniger gut erledigen als sie.

Perfektionismus reduziert den Menschen auf seine fehlerlose Funktion, auf seine tadellose Leistung. Damit werden alle Personen auf eine Maschine reduziert, die zu funktionieren hat.

Schrittweise Auflösung von zu perfektionistischem Verhalten

Unseren Perfektionismus können wir nur in kleinen Schritten verändern, aber die gute Nachricht ist: Wir können uns aus dem Perfektionismus hinausbewegen! Der erste Schritt besteht darin, sich die Folgen des Perfektionismus im eigenen Leben erst einmal bewusst zu machen.

Der nächste Schritt ist das mitfühlende Annehmen unserer eigenen Unvollkommenheit. Dazu gehört auch das Akzeptieren, dass wir Fehler machen und dass es auch gut ist, Fehler zu machen, da wir aus ihnen lernen können.

Um aus dem Perfektionismus herauszukommen, ist es hilfreich, sich immer mehr in die Richtung einer realistischeren Selbsteinschätzung zu bewegen. Der Gewinn einer realistischen Selbsteinschätzung ist die innere Freiheit.

Diese innere Freiheit macht uns auch unabhängig von der Beurteilung durch andere Menschen. Wir strahlen eine natürliche Autorität aus. Unser Leben wird so viel unbeschwerter. In einem weiteren Blogartikel von mir kannst Du praktische Tipps gegen Perfektionismus zur sofortigen Umsetzung nachlesen. 


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