Die meisten meiner Coachees wünschen sich, ihren inneren Kritiker einfach abzuschaffen und von seiner harschen Kritik nicht mehr gequält zu werden. Er soll also zum Schweigen gebracht werden!
Doch erstens ist es einfacher gesagt als getan. Und zweitens – Und das ist noch viel wichtiger! – wird es nicht funktionieren! Denn natürlich wehrt sich der innere Kritiker mit Händen und Füßen gegen seine Abschaffung.
Und wir ziehen dann sowieso den Kürzeren. Da hilft es viel mehr, neugierig auf den inneren Kritiker zuzugehen und ihn möglichst ohne zu großes Verurteilen kennenlernen zu wollen. Bist Du dazu bereit?
Was möchte der innere Kritiker?
Das Interessante ist – wie ich finde -, dass der innere Kritiker letztendlich auch „nur“ wie alle anderen auch geliebt und wertgeschätzt werden möchte… Auch, wenn das auf den ersten Blick nicht so aussieht und auch, wenn Dir das erst einmal als unmöglich erscheint.
Er möchte weder verlassen noch verletzt oder ausgeschlossen werden. Und letztendlich tut er ja alles, um uns zu schützen, selbst wenn er dies auf eine Art und Weise tut, die wir nicht sofort erkennen und verstehen können. Er möchte, dass wir mit belastenden Gefühlen wie Ängsten, Wut, Trauer oder Hass umgehen können, ohne dass uns diese überwältigen.
Er versucht, dafür zu sorgen, dass unsere Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit gestillt werden. Ist der innere Kritiker besonders stark ausgeprägt, ist dies oft ein Hinweis darauf, dass es tiefe Verletzungen in unserer Lebensgeschichte gegeben hat. Vielleicht denken wir, diese bereits überwunden zu haben. Doch in solchen Fällen sind diese Erlebnisse noch nicht vollständig verarbeitet worden.
Den inneren Kritiker kennenlernen
Nimm einfach mal Kontakt zu Deinem inneren Kritiker auf und lass Dich von Deiner Neugier leiten. Falls es Dir möglich ist, stelle Dir Deinen inneren Kritiker als eine Person vor. Für manche ist dies einfacher, wenn sie ihre Augen schließen.
- Wie sieht Dein innerer Kritiker aus? Stelle ihn Dir vor Deinem geistigen Auge so konkret wie möglich vor.
- Wie alt ist er?
- Was hat er an?
- Hat er einen bestimmten Gesichtsausdruck?
- Ist dieser innere Anteil männlich, weiblich oder hat er kein konkretes Geschlecht?
- Wie ist seine Körperhaltung?
- Was sagt er zu Dir? Oder redet er nicht?
Diese Imaginationen erleichtern uns den Zugang zu unserem Unterbewusstsein. Dieses findet meistens verblüffend passende kreative Bilder zu unserem inneren Erleben, die uns helfen, unserem inneren Kritiker auf die Spur zu kommen.
Solltest Du künstlerisch oder handwerklich begabt sein, kannst Du den inneren Kritiker natürlich auch ganz anders kreieren. Deiner Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Bei manchen hat der innere Kritiker keine konkrete Gestalt, was völlig in Ordnung ist. Dieser ist dann eher als eine Art Grundgefühl oder Hintergrundrauschen wahrnehmbar.
Wie auch immer sich der innere Kritiker Dir zeigt, ist es okay. Versuche daher nicht, ein inneres Bild zu erzwingen.
Auf der Spur Deines inneren Kritikers
Mit Hilfe ein paar wichtiger Fragen, kommen wir dem auf die Spur, wovor uns unser innerer Kritiker bewahren möchte.
- Wovor konkret wollte er Dich bereits in Deiner Kindheit beschützen, als er entstanden ist?
- Vor wem musste er Dich damals schützen?
- Wovor möchte Dich Dein innerer Kritiker heute beschützen?
In den meisten Fällen geht es darum, unsere Grundbedürfnisse zu befriedigen. Zu unseren Grundbedürfnissen gehören:
- Bindung
- Kontrolle
- Erhöhung unseres Selbstwertes
- Lustgewinn oder aber Vermeiden von Unlust
Dies möchte ich an einem Beispiel näher verdeutlichen. Nehmen wir mal an, es geht um das Grundbedürfnis Kontrolle. Um Kontrolle zu erreichen, versuche ich eine „gute“ Tochter zu sein, indem ich versuche die Wünsche meiner Eltern zu erfüllen.
Dies wird in der Konsequenz dazu führen, dass ich meine eigenen Bedürfnisse nicht so wichtig nehme und diese hintenanstelle. Ich werde mich dann eher für andere aufopfern und mich nicht genug um mich und meine Bedürfnisse kümmern.
Versuche daher mal – am besten schriftlich -, Dein Verhalten zu analysieren und dieses einem Grundbedürfnis zuzuordnen. Dann überlege Dir, wie Du Dir dieses Grundbedürfnis auf einem konstruktiveren Weg erfüllen kannst.
Unser kindlicher Lösungsversuch
Sich selbst anzutreiben, zu kritisieren oder anzupassen, war oft die beste Lösung, die Du als Kind finden konntest, um den Erwartungen Deiner Eltern zu entsprechen und von ihnen geliebt zu werden.
Als Kind sind wir von der Liebe unserer Bezugspersonen abhängig und tun daher alles, um diese Bindung aufrecht zu erhalten. So kommt es, dass ein Kind, das vielleicht unartig war, sich selbst dafür kritisiert, um die Kritik der Eltern bereits vorwegzunehmen und ihnen damit den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Man könnte also sagen, dass nicht der innere Kritiker, sondern der kindliche Lösungsversuch eines Problems das eigentliche Problem sind. Sobald wir dies verstanden haben, verändert sich auch der Umgang mit dem inneren Kritiker.
Es wird damit auch deutlich, dass wir den inneren Kritiker nicht einfach vertreiben können, da er ja eine wichtige Funktion erfüllt. Er tut nämlich alles, um uns zu schützen und sorgt dafür, dass andere Menschen uns gern haben. Zumindest ist dies seine gute Absicht, auch wenn diese auf den ersten Blick nicht deutlich erkennbar ist.
Konstruktive Zusammenarbeit statt mundtot machen
Erst nach einer geduldigen, konstruktiven und vor allem wertschätzenden Auseinandersetzung mit unserem inneren Kritiker wird es uns gelingen, uns selbst mit mehr Wohlwollen statt mit harscher Kritik zu begegnen. Zuvor muss der innere Kritiker mit seinen wichtigen Schutz-Funktionen anerkannt und gewürdigt werden.
Sollte er jedoch den Eindruck haben, dass wir ihn loswerden wollen, wird er mit allen Mitteln um sein Überleben kämpfen. Dies führt unter anderem dann dazu, dass der innere Kritiker jegliche Veränderung torpedieren wird.
Gelingt der vertrauensvolle Kontakt zum inneren Kritiker jedoch, ist es in der Regel möglich, dass er seine Fähigkeiten konstruktiv für uns einsetzen kann. Diese fruchtbare Zusammenarbeit wird unser Selbstwertgefühl und unsere Selbstliebe auf jeden Fall sehr stärken können.