Viele Therapeut*innen bekommen sofort ein schlechtes Gewissen, wenn es ums NEIN sagen geht.
Zum einen liegt es daran, dass ihnen bewusst ist, dass es für eine gute therapeutische Begleitung absolut notwendig ist, sich abgrenzen zu können.
Aber sie wissen auch, dass das nicht immer gelingt.
Zum anderen haben sie aber auch das Gefühl, nicht gut genug für ihre Klient*innen da zu sein, wenn sie auch mal NEIN sagen.
Ja, sie denken sogar, ihre Klient*innen damit im Stich zu lassen.
Auch, wenn das fernab jeder Realität ist…
Das schlechte Gewissen sorgt dafür, dass Therapeut*innen sich übermäßig verausgaben und schließlich in der totalen Erschöpfung landen.
Plagt Dich auch das schlechte Gewissen?
Möglicherweise kommt Dir das auch bekannt vor und Du fühlst Dich ertappt?
Du denkst vielleicht, dass es als Therapeut*in Deine Aufgabe ist, Deine Klient*innen empathisch zu begleiten und dass es sich ausschließt, dass Du auch auf Deine Bedürfnisse achtest.
Dabei würde die Empathie auf der Strecke bleiben?
Du hättest das Gefühl, Deine Klient*innen im Stich zu lassen?
Du kommst Dir egoistisch vor, wenn Du Deine Priorität zu sehr auf Deine eigenen Bedürfnisse legst?
Hohe Empathiefähigkeit, Leistungsfähigkeit sowie die Bereitschaft, sich für andere zu engagieren, sind zwar eine wichtige Ressource für die psychotherapeutische Arbeit, können aber auch dazu beitragen, in ein Burnout zu rutschen.
Wie bei vielem anderen auch, kommt es hier auf das Maß an.
Denn es ist genau andersherum: Wenn Du nicht genug auf Deine eigenen Bedürfnisse achtest, wirst Du früher oder später nicht mehr genug Kraft haben, um Deine Klient*innen weiterhin unterstützen zu können.
Wenn du dann lange Zeit ausfällst, wäre das nicht nur für Dich dramatisch, sondern für deine Klient*innen noch viel mehr.
Gründe für die eigenen vernachlässigten Bedürfnisse
Hast Du Dir auch schon mal überlegt, was dahinter steckt, dass Du glaubst, die Bedürfnisse Deine Klient*innen fraglos erfüllen zu müssen, ohne auf Deine eigenen zu achten?
Es scheint so, dass wir nicht in Konflikte mit unseren Klient*innen geraten wollen.
Klar hat das mit unserer eigenen Geschichte zu tun.
Ich selbst bin mit einem alkoholkranken Vater aufgewachsen und habe gelernt, meine Bedürfnisse hintenanzustellen.
Es war daher ein längerer Prozess, mir diese erst einmal bewusst zu machen und für sie einzustehen.
Auch die Angst vor Ablehnung spielt häufig eine Rolle, wenn man die eigenen Bedürfnisse nicht im Blick hat.
Menschen in helfenden Berufen ziehen häufig ein großes Selbstwertgefühl aus ihrer Arbeit mit ihren Klient*innen.
Eigene Belastungen werden daher kaum wahrgenommen.
Wir sind es so gewohnt, für andere da zu sein, dass wir ganz „vergessen“, auch die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen.
Ein Selbstläufer quasi.
Während wir ganz genau sehen, dass es für unsere Klient*innen sehr wichtig ist, sich abzugrenzen, scheint das für uns selbst nicht zu gelten…
Gefangen im Drama Dreieck
Manchmal verfangen wir uns auch im Drama Dreieck, was uns den Blick für die notwendige Abgrenzung verstellt.
Bei dem vom Transaktionsanalytiker Stephen Karpman entwickelten psychologischen Modell wird typisches menschliches Verhalten vereinfacht dargestellt.
Dieses Modell ist hilfreich, um eigenes Verhalten und das des Gegenübers besser einschätzen zu können.
Menschliches Verhalten bewegt sich demnach im Spannungsfeld Retter*in, Verfolger*in und Opfer.
Die Retter*in braucht als Gegenüber das Opfer, um sich bestätigt zu fühlen.
So kann sie sich beweisen, dass sie gebraucht wird, dass es ohne sie nicht geht.
Dadurch kann sie sich überlegen fühlen.
Die Retter*in handelt ungefragt über den Kopf des Opfers hinweg, weil sie glaubt, dass dieses nicht selber handeln kann.
Der Verfolger*in hingegen geht es darum, zu kritisieren und anzuklagen.
Die Grundhaltung „Ich bin okay. – Du bist nicht okay.“ steckt hinter diesem Verhaltensmuster.
Das Opfer ist hilflos und verzweifelt und fühlt sich von anderen herabgesetzt.
Die eigene Lösungskompetenz wird hier abgewertet.
Viele unserer Klient*innen verbleiben in der Opferrolle und hoffen von uns gerettet zu werden.
Eine Rolle, die wir oft bewusst oder unbewusst anzunehmen scheinen.
Doch, wenn wir in dieser Dynamik verbleiben, hilft das weder unseren Klient*innen noch uns weiter.
Dieses zu reflektieren und die Retter*innenrolle bewusst abzulegen, ist ein wichtiger Schritt zu einer wirkungsvollen Abgrenzung.
Emotional involviert zu sein, hilft niemandem!
Auch, wenn wir emotional viel zu sehr involviert sind, erscheint es uns nahezu unmöglich, uns abzugrenzen.
Das passiert ganz besonders dann, wenn wir von der Geschichte unserer Klient*innen tief berührt sind.
Wir können dieses Leid nur schwer aushalten, was uns dazu verführt, uns immer mehr anzustrengen und für unsere Klient*innen zu arbeiten statt mit ihnen.
Diese Schonung unsere Klient*innen blockiert ihren Heilungsprozess und führt außerdem dazu, dass wir ausbrennen.
Auch wenn wir es besser wissen, versuchen wir häufig, die Probleme für sie zu lösen.
Mitgefühl wird so zu Mitleid und führt in eine Sackgasse…
Herausforderndes Verhalten unserer Klient*innen
Manchmal fordert uns das Verhalten unserer Klient*innen so sehr heraus, dass wir die Notwendigkeit, sich dagegen abzugrenzen, aus dem Blick verlieren.
Dies können unberechtigte Vorwürfe sein oder aber auch feindseliges bzw. abwehrendes Verhalten, das uns in die Defensive gehen lässt.
Manche Klient*innen wollen nicht wirklich mitarbeiten und sind so sehr im Widerstand, dass sie ihren eigenen Prozess blockieren.
Wenn wir das nicht rechtzeitig mitbekommen, machen wir unbewusst die Arbeit für sie, was zu nichts führt – außer zu unserer Erschöpfung.
Anstatt, dass sie Selbstverantwortung übernehmen, bleiben sie in Fantasien gefangen, von uns gerettet werden zu wollen, was wir offensichtlich unbewusst bereitwillig übernehmen.
Da hilft es weiter, uns diese Dynamik bewusst zu machen und ihre Selbstverantwortung in der Therapie zum Thema zu machen.
Überhöhte unrealistische Erwartungen unserer Klient*innen
Auch mit einer solchen Erwartungshaltung blockieren Klient*innen ihren eigenen Prozess.
Sie kommen so keinen Schritt weiter.
Sie nehmen ihre eigenen Schritte, die kleinen Veränderungen, nicht mehr wahr.
Dies verhindert den therapeutischen Erfolg.
Auch hier geraten wir manchmal unbewusst durch die gefühlten Erwartungen unter Druck, ohne es so richtig wahrzunehmen und haben das Gefühl, uns nicht abgrenzen zu „dürfen“, da wir befürchten, dass die Klient*innen nicht damit umgehen könnten.
Ein NEIN kostet Anstrengung!
Tatsächlich müssen wir uns richtig anstrengen, um uns abzugrenzen.
Das ist selten ein einfacher Prozess, der nur so „flutscht“.
Wir müssen dazu oft eigene Widerstände überwinden.
Dies hat in der Regel mit unserem eigenen Selbstbild zu tun.
Wir sehen uns lieber als die hoch engagierte, empathische und hilfsbereite Therapeut*in anstatt auch mal Nein zu sagen.
Möglicherweise fällt es uns leichter, wenn wir lieber JA sagen anstatt NEIN sagen zu müssen.
Das erscheint uns vielleicht wie eine Abgrenzung light und macht es uns einfacher.
Das könnte z.B. so aussehen: „Ich möchte lieber dieses und jenes tun.“ Anstatt: „Nein, das möchte ich nicht.“
Angst vor der Reaktion des Gegenübers
Wir machen nicht so häufig die Erfahrung, dass unsere Abgrenzung von Klient*innen begeistert aufgenommen wird.
Manche reagieren sehr vorwurfsvoll oder auch verzweifelt, wenn sie nicht das bekommen, was sie sich erhofft haben.
Dann fällt es besonders schwer, beim NEIN zu bleiben, weil wir befürchten, dass sie keinen Umgang damit finden und überfordert sind.
Dennoch ist es für beide Seiten wichtig, sich genau damit auseinanderzusetzen.
Also lass Dich nicht beirren, bleibe bei Deinem NEIN und schaue auch bei Dir, was Dein NEIN auslöst.
Es lohnt sich, sich auch mit den eigenen Ängsten auseinanderzusetzen.
Konfliktfähigkeit trainieren
Selbst wir als Therapeut*innen haben nicht unbedingt Konfliktfähigkeit gelernt, auch, wenn wir denken, dazu in der Lage sein zu sollen..
Wir sind vielleicht froh, wenn wir einen Konflikt vermeiden können anstatt ihn anzugehen.
Doch letztendlich bringt uns das nicht weiter.
Das NEIN sagen ist ein wichtiger Teil von Konfliktlösungskompetenz.
Diese führt auch zu verbesserten Beziehungen – sowohl privat als auch beruflich.
Beziehungen finden dann auf Augenhöhe statt.
Auch, wenn es auf den ersten Blick schwerfallen mag, sich abzugrenzen, hilft diese Fähigkeit dabei, unsere Arbeit gut zu machen und unsere Klient*innen empathisch zu begleiten.
Ich freue mich darauf, von Dir zu lesen, welche positiven Erfahrungen Du mit Abgrenzung gemacht hast.